Guardini Predigtreihe | P. Thomas Eggensperger OP| 28. November 2020


„Vom Warten durch den endlosen Gang dieser Zeit reden die vier Kerzen.“

Liebe Schwestern, liebe Brüder,

Advent hat viel zu tun mit der „Zeit“. Die Advents-Zeit ist nicht nur der Beginn des kirchlichen Jahreskreises, sondern sie ist auch ein Prozess von Zeit – eine Zeit des Wartens, eine Zeit vor der Ankunft, eine Zeit der Ankunft, der Beginn der geschichtlichen Zeit … Alles dreht sich letzten Endes im Advent um die Zeit. Nicht umsonst hieß es im heutigen Evangelium:

„Gebt Acht und bleibt wach! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist.“(Mk 13, 33)

„Ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist.“ – Das lässt einen aufhorchen. Denn es stimmt ja – die Zeit läuft, die Uhr tickt, aber ich weiß nicht, was in 10 Minuten sein wird. Die Frage nach der Zeit ist dabei noch nicht mal nur ein Thema für ruhige Stunden, wenn Besinnung und Einkehr angesagt sind.

Keineswegs – die Zeit ist unser bester Freund im Alltag, denn sie bestimmt unseren Alltag.

Machen wir es konkret: Ein wesentliches Moment heutiger Debatten um Arbeit und Freizeit ist das Phänomen der „Zeitsouveränität“ der Einzelnen. Alles agiert, alles ist in der Zeit, alles ist in ihr geregelt, bestimmte Abläufe orientieren sich an der Zeit, der Mensch lebt in und von Terminen, die er ziemlich zeitgenau einzuhalten hat, um nicht alles durcheinander zu bringen.

Aber schlussendlich will niemand Opfer der Zeit werden, sondern man will die Zeit im Griff haben – Zeitmanagement kommt hier in den Blick, d. h. Zeitplanung, kurz: „Zeitsouveränität“. Man will Herr/Frau seiner Zeit sein.

In der Geschichte der Menschheit spielte Zeit immer eine Rolle, wenngleich die Fragestellung sich wandelte. Mittelalterliche Bauern hatten andere Zeiten und Rhythmen als die englischen Arbeiter des ausgehenden 19. Jahrhunderts in den Fabriken. Wenn Menschen heute Zeitsouveränität suchen, dann stehen Themen wie Flexibilisierung und Individualisierung der Arbeitszeit auf der Agenda.

Es werden Schichten eingerichtet, gleitende Arbeitszeiten, „Time sharing“- oder „Job-Sharing“-Modelle praktiziert, ja sogar Sabbaticals. So manche Arbeitsverträge für junge Mitarbeiter*innen gehen auf persönliche Bedürfnisse ein, da ihnen Flexibilität und individuell zugeschnittene Zugeständnisse wichtig sind. Und die Arbeitgeber wissen, dass nur ein zufriedener Mitarbeiter ein guter Mitarbeiter ist.

„Work-Life-Balance“ ist der klassische Fachbegriff für den Versuch eines adäquaten Wechselverhältnisses von Arbeit und Freizeit. Die Arbeitsforscher haben weitere Begriffe in die Debatte eingeführt. Letzten Endes geht es immer darum, Menschen die Möglichkeit zu geben, Arbeitszeit und Freizeit in ein gutes Verhältnis zu bringen.

„Zeitsouveränität“ – das ist aber schon ein schillernder Begriff. Einerseits fasziniert die Vorstellung, dass ich der Herr/Frau über meine Zeit bin, aber andererseits sehe ich, wie die Zeit läuft, die Uhr tickt und ich den Lauf der Zeit nicht aufhalten kann.

Das Evangelium sieht das auch so: „Seid wachsam!“ Das ist nichts anderes als der Hinweis, dass wir ganz so ganz souverän in Zeitfragen auch nicht sind. Im Gegenteil, es bleibt die Ungewissheit, was kommt. Es bleibt die Frage, was über uns kommen wird, auf das wir keinerlei Einfluss haben. Oft bleibt einfach nur: Warten! Abwarten!

Romano Guardini hat das „Warten“ in einer Adventsmeditation in einen Zusammenhang – und gleichzeitig auf den Punkt gebracht:

„Vom Warten durch den endlosen Gang dieser Zeit reden die vier Kerzen.“

Der Blick auf den Adventskranz, der wöchentlich um eine Kerze mehr beleuchtet wird, ist ein klassisches Symbol für die Zeit, die es abzuwarten gilt. Vier Kerzen – vier Wochen, das ist sogar nurmehr eine relativ kurze Zeitspanne.

Je mehr man sich mit dem Thema der Zeit auseinandersetzt, desto intensiver stellt sich die Frage, wie ich selbst denn mit der Zeit umgehen soll. Sie ist mir gegeben, sie ist mir geschenkt einerseits, sie ist mir auferlegt und ich habe keinerlei Einfluss darauf, was kommen wird, andererseits. Das passt doch irgendwie nicht zusammen …

Der Schaukelstuhl ist eben nicht der Ort, um die Zeit tot zu schlagen! Aber er kann sehr wohl der Ort der Muße sein, denn Muße ist etwas anderes als sich zu langweilen. Muße ist die Möglichkeit, Zeit zu nutzen, die man hat. Muße ist nicht Müßiggang, sondern ist aktives Nutzen der Zeit – aber dies geschieht durchaus sogar im Schaukelstuhl.

Advents- und Weihnachtszeit laden gerade dazu ein, sich Zeit zu nehmen, sich zurückzulehnen und in sich zu gehen. Ein paar Stunden für sich zu sein, etwas zu lesen oder Musik zu hören, das kann im besten Sinne des Wortes Muße sein. In sich zu gehen bedeutet, die Gegenwart zu reflektieren, die Vergangenheit einzuordnen und auch zu schauen, was die Zukunft bringt.

Aber das Evangelium nordet uns da schnell wieder ein: „… bleibt wach! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist.“

Es gilt, die kostbare Zeit zu nutzen! Damit ist nicht gemeint, sich wie wild in Arbeit und Tätigkeit zu stürzen, um Zeit für Wichtiges auszunutzen. Damit ist vielmehr gemeint, eine Zeit lang aufmerksam zu sein für den großen Zusammenhang, in den ich eingebettet bin.

Man mag das „Achtsamkeit“ nennen, ein beliebtes Wort, mir gefällt die Umschreibung mit dem Wort „Muße“ besser: Es macht deutlicher, dass es darum geht, den Mut und die Kraft aufzubringen, freie Zeit kreativ zu nutzen. Damit ist nicht gemeint das Abarbeiten von Abzuarbeitendem oder das geschäftige Treiben im Fitness-Studio oder das hektische Chillen der Art, von der man am nächsten Tag nur Kopfschmerzen hat.

„Vom Warten durch den endlosen Gang dieser Zeit reden die vier Kerzen.“ – so hat es Guardini umschrieben.

Zeit ist ein kostbares Geschenk. Zeit ist ja eigentlich auch unser Leben. Von der Geburt an tickt die Uhr. Wie lange sie für uns tickt, wissen wir nicht. Das ist allein schon Grund genug, sich des Evangeliums zu besinnen: „Gebt Acht und bleibt wach!“

Ich freue mich auf den Advent und auf die Weihnachtszeit. Und ich hoffe, dass ich Zeit finden werde, die Zeit zu bedenken. Und wenn nicht im Advent, dann eben zu Weihnachten. Und wenn es da auch nicht klappt, dann wird es eben einer meiner guten Vorsätze zum Neuen Jahr …

Literatur:

Romano Guardini, Advent, in: ders., Nähe des Herrn. Betrachtungen über Advent, Weihnachten, Jahreswende und Epiphanie, Kevelaer 2016, 8-17

Thomas Eggensperger, Arbeit und Muße als Zeitrhythmen der Gegenwart. Veränderungen in Freizeit und Tourismus, in: Tobias Kläden (Hrsg.), Gastfreundschaft und Resonanz. Perspektiven zu Freizeit und Tourismus (KAMP kompakt Bd. 7), Erfurt 2020, 38-55.

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